Editorial


Liebe Leserinnen und Leser,


wir freuen uns, Ihnen die mittlerweile fünfte Ausgabe unserer Zeitschrift für Islamischen Studien präsentieren zu können.


Unsere neue Ausgabe wird eröffnet von Abdel-Hakim Ourghi, Abteilungsleiter des Fachbereichs Islamische Theologie/Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Ourghi befasst sich in seinem Aufsatz mit einem noch nicht lange zurückliegenden Streitthema in Saudi-Arabien, dem sogenannten „Chaos der Fatwas“ (fawḍā l-fatāwā); jenem Zustand also, der durch die verstärkte Medienpräsenz und Popularität inoffizieller, saudischer (Rechts-)Gelehrter hervorgerufen wurde und wodurch das religiöse Machtmonopol des offiziellen Gelehrtenestablishments zunehmend ins Wanken geraten ist. Diese Spannung wird vom Autor zunächst in den historischen Kontext eingebettet, indem der Entstehungshintergrund der staatlich-religiösen Institution von Saudi-Arabien beleuchtet und zentrale Faktoren für den Erfolg der „Medienmuftis“ sowie für die zunehmende Tendenz, sich von den staatlichen, mit der Königsfamilie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehenden Religionsautoritäten abzuwenden, herausgearbeitet werden. Hierunter ist nach Ourghi insbesondere die verstärkte Nutzung des Internets zu zählen, das der berühmte Gelehrte Yūsuf al-Qaraḍāwī, der Vorreiter schlechthin in Bezug auf Medien-Fatwas, als ein „Geschenk Gottes“ im Dienste des Islam zu bezeichnen wusste.

Anhand der inhaltlichen Analyse einer Auswahl von umstrittenen Fatwās, die zum fawḍā l-fatāwā beigetragen haben, sowie den Reaktionen durch die saudischen Staatsgelehrten kann Ourghi verdeutlichen, dass die Medienmuftis – bei gleichbleibendem wahhabitischen Interpretationshintergrund – unterschiedliche Ansätze und Ziele verfolgen und einen besonderen Mut für heikle Themen an den Tag legten; angefangen vom Ultrakonservativen ʿAbd ar-Raḥmān Nāṣir al-Barrāk, der jeden, der die Mischung der Geschlechter am Arbeitsplatz oder in Schulen in Saudi-Arabien erlaubt, zum „ungläubigen Apostat“ erklärte, bis hin zum vergleichsweise reformbereiten al-ʿUbaykān, der in seiner aufsehenerregenden Fatwā das Stillen eines erwachsenen Mannes von einer nichtverwandten Frau ohne körperliche Berührung für erlaubt erklärt hatte, um so das Problem der Geschlechtertrennung (z.B. das Zusammentreffen der Frau oder Tochter mit einem fremden Mann im Hause) zu umgehen. Abschließend fasst Ourghi die zentralen Punkte des königlichen Dekrets zusammen, das in Reaktion auf das „Chaos der Fatwas" erlassen und in dem das Erteilen von gültigen Rechtsgutachten ausschließlich auf die Mitglieder des „Rats der Großgelehrten“ beschränkt wurde. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor dabei auf das Zusammenspiel von politischer und religiöser Legitimation für die königliche Regulierung des Rechtsgutachtenwesens, welche für die islamische, pluralistische Rechtstradition zwar eine Gefahr darstelle, der allerdings langfristig kein Erfolg beschieden sei, so das Resümee des Autors.


Mahmud El-Wereny, Lehrbeauftragter und Doktorand am Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen, widmet sich in seinem Artikel „Yūsuf al-Qaraḍāwīs Theorien zu den Hauptzielen der Scharia“ dem heute sehr zentralen Thema der Maqāṣid aš-šarīʿa, indem er sich besonders auf die Theorien des prominenten Gelehrten Yūsuf al-Qaraḍāwī bezieht. El-Wereny stellt zunächst unterschiedliche Herangehensweisen bezüglich der Ziele der Scharia dar und spricht die Frühphase der juristischen Hermeneutik (uṣūl al-fiqh) an, die allem Anschein nach Grundprinzipien der Maqāṣid bereits erarbeitete, diese jedoch nicht in einer Theorie systematisierte. Dies habe dazu geführt, dass unterschiedliche Begriffe wie Ursache (sabab), Grund (ʿilla) oder Interesse des Gesetzes (maṣlaḥat aš-šarʿ) für die spätere Maqāṣid verwendet wurden. Nach dieser kurzen Einleitung in die Frühphase der juristischen Hermeneutik folgt die
Darstellung der theoretischen Entwicklung der Maqāṣid anhand der Herangehensweisen von al-Ǧuwaynī, al-Ġazālī, aš-Šāṭibī und aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr. Diese hier genannten Namen sind u.a. die Hauptfiguren, die für die Entwicklung der uns heute vorliegenden Maqāṣid einen maßgeblichen Beitrag geleistet haben. So ist das Dreistufenmodell der Maqāṣid – notwendig zu schützende Interessen (ḍarūriyyāt), bedürfnisorientierte Interessen (ḥāǧiyyāt) und verschönernde Interessen (taḥsīniyyāt) – auf diese genannten Gelehrten zurückzuführen. Bezeichnen lässt sich die Entwicklung bis aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr als die „klassische Phase“ des Maqāṣid. Abgesehen von einigen Vorgängern und Zeitgenossen folgt mit aṭ-Ṭāhir b. ʿĀšūr eine neue Phase, in der versucht wird, die Maqāṣid neu zu strukturieren und sie zu erweitern, um den uṣūl al-fiqh (juristische Hermeneutik, Rechtsmethodik) die notwendige Dynamik zu verleihen, die laut Ibn ʿĀšūr nicht vorhanden sei. El-Wereny geht nun einen Schritt weiter und rekonstruiert die Herangehensweise eines modernen, zeitgenössischen Gelehrten, nämlich des Yūsuf al-Qaraḍāwī. Nach einer kurzen biographischen Darstellung analysiert El-Wereny das Verständnis von al-Qarāḍāwī bezüglich der Maqāṣid. Hierbei werden auch Stimmen hervorgehoben, die den Ansätzen von al-Qaraḍāwī widersprechen, wie z.B. einige Kritikpunkte von Aḥmad ar-Raysūnī. Besonders interessant ist die Anwendung der Maqāṣid im Bereich der Rechtsgutachten (fatwā, fatāwā), was dem Leser die praktische Relevanz und die Anwendbarkeit der Maqāṣid verdeutlicht.


Farid Delshad, Sprachdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Orientalischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, setzt sich in seinem Aufsatz über den Sufismus mit begriffs- und entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen
auseinander. Nach einer einführenden Kritik an westlichen Islamforschern bzw. Orientalisten, die den islamischen Sufismus vor dem Hintergrund der abendländischen bzw. christlichen Theologie und Mystik zu verstehen und bewerten versuchten und die Termini „Sufismus“ und „Mystik“ gleichsetzten, ohne über ihre semantischen und inhaltlichen Unterschiede zu reflektieren, widmet sich der Autor der Diskussion über die Etymologie des Wortes taṣawwuf bzw. ṣūfī. Es werden die gängigsten und verbreitetsten Hypothesen zu den möglichen Etyma (ṣuffah „Sofa, Veranda“, ṣaff „Reihe, Rang“, ṣafā „Reinheit, Scharfsichtigkeit“, ṣūf „Wolle, Ziegenharr“, sofía „Weisheit“), die sich in klassischen arabischen und persischen Quellen finden lassen und die Diskussion bis in die Gegenwart dominieren, dargestellt. Dabei zeigt der Autor die philologischen und etymologischen Unzulänglichkeiten sowie die Umstrittenheit einiger Hypothesen im Einzelnen auf, die zum Teil schon von muslimischen Gelehrten wie Qušayrī (gest. 1074) thematisiert worden waren. Auf diesen Feststellungen aufbauend weist Delshad die Rückführung des Begriffs ṣūfī auf das altgriechische Lexem σοφία (sofía „Wissen, Weisheit“) als die naheliegendste Lösung aus, wobei er semantische und kulturgeschichtliche Argumente für diese These stark macht und auf das Phänomen des istiʿrāb hinweist, bei dem Lehnwörter aus dem philosophischen, theologischen und literarischen Kontext nicht nur dem Arabischen angepasst, sondern gar als eigens arabische Wörter lexikalisiert wurden. Dass sich diese etymologische Erklärung – vertreten vom persischen Universalgelehrten Abū Reyḥān Bīrūnī (gest. 1048) – in der islamischen Gelehrsamkeit nicht durchsetzen konnte, erklärt der Autor mit dem Bestreben, dem Sufismus und seiner Weltanschauung eine genuin islamische Färbung zu verleihen und ihn nicht mit hellenistischen bzw. paganen Elementen in Verbindung zu bringen. Abschließend greift Delshad seine eingangs formulierte Kritik an der westlichen Islamforschung auf und legt die aus der Sicht des Autors mit Blick auf die islamische Geistesgeschichte notwendige Differenzierung zwischen Sufismus (taṣawwuf) und Gnostik (ʿErfān) dar. Dies wird dabei nicht nur mit den verschiedenen weltanschaulichen und theologisch-philosophischen Ausprägungen der beiden Phänomene begründet. Auch politische Entwicklungen, i.e. die Marginalisierung des praktisch-asketischen Sufismus bzw. der Sufi-Orden mit gleichzeitiger Aufwertung des theosophisch und erkenntnistheoretisch ausgerichteten Gnostik (ʿErfān) unter der iranischen Safawiden-Dynastie, die sich ideologisch vom sunnitischen Osmanischen Reich zu distanzieren versuchte, werden für diese Differenzierung geltend gemacht.


Eine erkenntnisreiche und anregende Lektüre wünschen Ihnen


Elif Gömleksiz und Serdar Kurnaz